Seit einigen Wochen bombardiert die Türkei kurdische Gebiete, insbesondere die symbolträchtige Stadt Kobane ist davon betroffen. Vorwand für die neue Offensive des türkischen Staates ist der Bombenanschlag am 13. November in einer Einkaufsmeile in Istanbul, bei dem Zivilist:innen verletzt und ermordet wurden. Die PKK und andere kurdische Organisationen haben sich zwar direkt von diesem Anschlag distanziert und es ist auch allgemein bekannt, dass diese Aktionsform nicht zum Repertoire der kurdischen Befreiungsbewegung gehört. Die Indizien für einen staatlich inszenierten Anschlag sind in diesem Fall sogar sehr konkret: Bei Ermittlungen kam heraus, dass ein bekannter MHP-Politiker Kontakt zur mutmaßlichen Attentäterin hatte und diese wiederum zu islamistischen Milizen in der Region Afrin.
Nichtsdestotrotz wird der inszenierte Anschlag vom AKP-MHP Regime genutzt, um die Revolution in Rojava anzugreifen. Es gibt klare Parallelen zum Jahr 2015: Der Anschlag von Suruc, bei dem 33 revolutionäre Jugendliche, die Spielzeug für kurdische Kinder über die Grenze bringen wollten, ermordet wurden und der Anschlag in Ankara, bei dem auf einem Friedensmarsch rund 100 Menschen ermordet wurden, lassen ebenfalls vermuten, dass sie staatlich inszeniert waren.
Dieses Vorgehen ist nicht neu und wurde auch nicht vom türkischen Staat erfunden. Es wird „Strategie der Spannung“ genannt: Dabei versuchen die Herrschenden, durch möglichst brutale Anschläge und Verbrechen die eigene Macht zu erhalten. Repressive und kriegerische Maßnahmen sollen mit den Anschlägen legitimiert werden und ein Klima der Angst geschaffen werden, das den Drang nach Fortschritt und Gleichheit überwiegt. Die „Strategie der Spannung“ wurde erstmals in den 70er Jahren in Italien von Geheimdienst- und NATO-Strukturen angewandt, um die gut verankerte revolutionäre Bewegung – insbesondere auch die „Roten Brigaden“ – in Verruf zu bringen, sowie eine mögliche Regierungsbeteiligung der (damals schon reformistischen) Kommunistischen Partei Italiens zu verhindern.
2015 verlor Erdogans AKP bei den Parlamentswahlen ihre absolute Mehrheit und die linke, prokurdische HDP war mit 13% erstmals ins Parlament eingezogen. Weil keine Regierung zustande kam, wurden Neuwahlen angesetzt. Erdogan prophezeite Chaos ohne eine AKP-Regierung und erklärte die Bevölkerung hätte falsch gewählt. Im kommenden Jahr stehen die Präsidentschaftswahlen an und wieder ist die Mehrheit für Erdogan nicht sicher. Jetzt scheint die düstere Wahlphase von Erdogan eingeläutet zu sein: Mit der Militäroffensive in kurdischen Gebieten versucht die AKP, einen Großteil der Opposition hinter sich zu bündeln. Weil alle Parteien im Parlament, außer der HDP, an einem Strang ziehen, wenn es gegen die “terroristischen” Kurden und um die Errichtung eines neo-osmanischen Reichs geht, hat das bislang auch immer funktioniert.
Schon seit geraumer Zeit führt die Türkei eine Offensive in den Guerillagebieten, doch militärisch kommt sie dort aktuell nicht weiter. Um den Widerstand der Guerilla zu zerschlagen, setzt die türkische Armee chemische Waffen ein.
Mit der Bombardierung Rojavas hat die Türkei den schon lange andauernden Krieg wieder in eine Phase der höheren Intensität befördert. Erdogan hat bereits angekündigt, dass eine Bodenoffensive nur eine Frage der Zeit sei und auch die Angriffe auf die Guerilla und die Zivilbevölkerung nehmen massiv zu.
Krieg – ein Heilmittel gegen Krisen?
Die Türkei befindet sich aktuell in einer schweren Krise, eine Inflation von über 80% lässt die Bevölkerung verarmen und sorgt für berechtigten Unmut. Gleichzeitig befindet sich die Regierungspartei AKP in Großstädten, wie Istanbul und Ankara, in einer schwachen Position, was für sie mit Blick auf die kommenden Wahlen ein Problem darstellt.
Es geht dabei aber nicht nur darum, die chauvinistischen Teile der Opposition hinter sich zu vereinen, um die eigene Macht zu festigen und von innenpolitischen Widersprüchen abzulenken. Es geht ebenso um die langfristige Stabilisierung einer kapitalistischen “Ordnung” im gesamten Nahen und Mittleren Osten. Die Türkei will in die aktuell desorganisierten Länder – Syrien und Irak – vordringen und dort Einfluss zu gewinnen. Auf kurze Sicht würde das zwar für weiteres Chaos sorgen. Langfristig soll aber ein kapitalistischer Wirtschaftsraum unter türkischer Führung in der Region entstehen. Kurdistan ist hierbei ein sehr relevanter Teil. Geographisch betrachtet liegt Kurdistan zwischen vier Nationalstaaten: der Türkei, dem Iran, dem Irak und Syrien.
In allen Teilen dieser Region gibt es eine kämpfende Freiheitsbewegung:
- In Rojava konnte trotz jahrelangem Krieg niederer Intensität und Besatzung durch die Türkei der revolutionäre Gesellschaftsaufbau mit dem zentralen Aspekt der Frauenbefreiung und Selbstverwaltung nicht aufgehalten werden. Darüber hinaus hat die Revolution nicht nur den Anspruch Kurdistan zu befreien, sondern eine gesellschaftliche Perspektive im Nahen und Mittleren Osten zu bieten.
- Im Iran sind es die kurdischen Gebiete, die eine führende Rolle in den revolutionären Kämpfen einnehmen. Diese Regionen befinden sich in einem Ausnahmezustand. Beinahe alle Geschäfte sind wegen Streiks geschlossen, die Klasse organisiert sich dort in Komitees und es kommt auch vereinzelt zu Bewaffnung unter den Aufständischen. Als Reaktion darauf hat das iranische Regime die sogenannten “Revolutionsgarden” und das Militär in die Region entsandt. Trotz der massiven Repression und unzähliger Toter bleibt der Widerstand ungebrochen.
- In Südkurdistan, schafft es die Guerilla in den Bergen, im Herzstück der kurdischen Befreiungsbewegung, ihre jahrzehntelange Organisierung weiterhin zu verteidigen, aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln, aber auch ihre Strategie und Taktik den Kampfbedingungen anzupassen. Trotz des massiven Giftgaseinsatzes der Türkei fügt die Guerilla dem türkischen Militär nicht unerhebliche Verluste zu und leistet unermüdlich Widerstand.
Weil diese fortschrittlichen, revolutionären Kämpfe in den jeweiligen Besatzerländern stattfinden, ist es sowohl für die reaktionären Mächte in der Region, als auch für die Imperialisten naheliegend, die Widersprüche, die sie miteinander haben, hinten anzustellen – im Bemühen den gemeinsamen Feind – die kurdische Befreiungsbewegung – zurückzudrängen. Denn langfristig geht die größte Gefahr für diese Kräfte davon aus, dass das revolutionäre Potenzial, das sich in der kurdischen Bewegung bündelt, noch weiter in die Länder der Region ausstrahlt. Allerdings ist dieser reaktionäre Schulterschluss bisher höchstens in Ansätzen vollzogen.
Dennoch: Strategisch gesehen, sind alle imperialistischen und kapitalistischen Länder, die in der Region um ihre Interessen ringen, Feinde der Revolution: sie wollen eine Konterrevolution. Sie wollen keine Selbstbestimmung in den kurdischen Gebieten, geschweige denn einen Staat mit sozialistischen Elementen. Denn das würde alle kapitalistischen Länder in der Region schwächen.
Die Imperialisten sind Feinde der Revolution!
Die USA und Deutschland tolerieren die aktuelle Offensive des AKP-Regimes. Und auch Russland gibt indirekt grünes Licht, indem sie die Türkei den von ihnen kontrollierten Luftraum für die Bombardements nutzen lassen. Zwar ist eine Großtürkei nicht im aktuellen Interesse der NATO, ein selbstbestimmtes und demokratisches Kurdistan aber noch weniger. Deshalb werden Erdogans Pläne für eine Bodenoffensive aktuell noch ausgebremst, während die Bombardierung gegen die kurdische Befreiungsbewegung unterstützt wird. Die Türkei ist ein sehr wichtiges NATO Mitglied und soll auch weiterhin an diese gebunden werden. In ihrer Rolle als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine hat sie als großen Einfluss gewonnen und ihre Partner in eine gewisse Abhängigkeit gebracht, die sie für sich nutzt. Ein gutes Beispiel dafür ist, dass die Türkei über ihr Veto-Recht Einfluss auf die Pläne der NATO-Norderweiterung genommen hat und als Bedingung für den Beitritt Finnland und Schwedens gestellt hat, dass die kurdische Befreiungsbewegung auch in diesen Ländern kriminalisiert werden soll. Schweden setzt dies auch bereits in die Praxis um und liefert vermeintliche PKK Funktionäre an die Türkei aus.
Die deutsch-türkische Zusammenarbeit reicht bis in den ersten Weltkrieg zurück. Heute nutzt die BRD den türkischen Staat als Wachhund der EU-Außengrenzen, deutsches Kapital hat milliardenschwere Investitionen in der Türkei und Waffenlieferungen, die auch gegen die Revolution eingesetzt werden, sind schon lange gang und gäbe. Die BRD und die Türkei sind strategische Partner mit einem gemeinsamen Feind: Der Revolution. Deutschland kriminalisiert die türkische und kurdische Linke hinter den eigenen Grenzen massiv. Kurdische Genoss:innen sitzen in deutschen Knästen und werden mittels §129b kriminalisiert, nicht anders ergeht es Kommunist:innen, wie beispielsweise Genoss:innen der TKP/ML, die, obwohl sie nicht einmal auf der EU-Terrorliste stehen, in einem riesigen Prozess als „Terrorist:innen“ vor Gericht geschleift wurden.
Wie heuchlerisch der deutsche Staat und seine Politiker:innen agieren lässt sich an diesen zwei Beispielen aufzeigen.
- Während alle Augen auf den Ukraine-Krieg schauen, die deutsche Politik am laufenden Band von Frieden und Demokratie faselt, führt ihr Verbündeter Türkei im Windschatten des Ukraine-Kriegs einen Angriffskrieg zu dem kaum ein Wort verloren wird. Das hebt zum einen noch einmal hervor, dass es im Ukraine Krieg nicht um Menschenrechte, sondern um die geopolitischen Interessen der NATO geht und verdeutlicht die Doppelmoral des deutschen Imperialismus. Gegen die Türkei gibt es keine Sanktionen und natürlich gibt es keine Waffenlieferungen an die Guerilla.
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Als die Massenproteste im Iran ausbrachen posierten Politiker:innen (allen voran Baerbock) mit Schildern mit der Aufschrift „Jin, Jiyan, Azadi“. Jetzt beim Angriff der Türkei auf die Bewegung, von der diese Parole kommt, wird geschwiegen. Die Türkei führt einen gezielten Krieg gegen die Frauenrevolution in Rojava, und versucht die aktuell dort erstarkende Frauenbewegung niederzumachen. Am 25. November dieses Jahres wurden die Proteste zum Tag gegen Gewalt an Frauen in der Türkei massiv kriminalisiert, während wichtige Führer:innen des Widerstands gegen den IS in Rojava in den vergangenen Monaten gezielt durch Drohnenschläge angegriffen und exekutiert wurden. Gleichzeitig fliegt Innenministerin Nancy Faeser in die Türkei und spricht über „Terrorbekämpfung“, verliert aber kein Wort zum Angriffskrieg der Türkei gegen Kurdistan und damit auch zum Krieg gegen die Errungenschaften der Frauenrevolution.
Internationalismus heißt: der Hauptfeind steht im eigenen Land!
Als Kommunist:innen in Deutschland kämpfen wir an der Seite unserer strategischen Partner:innen, der kurdischen Befreiungsbewegung. Ihr vielschichtiger Kampf um eine Alternative zu Reaktion und Kapitalismus ist ein dringend notwendiger Hoffnungsschimmer für Linke auf der ganzen Welt und nicht zuletzt auch ein internationalistisches Projekt, in dem Revolutionär:innen aus verschiedensten Ländern zusammenkommen und praktische Kampferfahrungen sammeln
Nicht zu Unrecht versteht ein wesentlicher Teil der kämpfenden kommunistischen Bewegung in der Türkei diese Bewegung und ihre Errungenschaften als Schlüssel für einen revolutionären Prozess in der Region – ohne dabei in allen ideologischen Fragen auf die Linie der PKK umzuschwenken.
Verteidigen wir die Revolution auf der Straße! Wie bei allen anderen Kriegen auch, müssen wir dabei den Hauptfeind zuhause suchen: den deutschen Imperialismus, denn er hat ein großes Interesse an der Zerschlagung der Revolution und dem Ausbau der deutsch-türkischen Zusammenarbeit.
Um den Krieg zu beenden reicht es nicht, wenn wir aufs Völkerrecht pochen und damit versuchen, Druck auf die Politik auszuüben. Den Parteien der herrschenden Klasse ist bewusst, dass der Krieg gegen das Völkerrecht verstößt. Sie werden auch jetzt nicht handeln, da die Türkei ein zu wichtiger strategischer Partner ist. Die ständige militärische Bedrohung Rojavas durch die Türkei, ist nur durch einen revolutionären Sturz des türkischen Staates zu erreichen. Um dieses große Vorhaben zu unterstützen müssen wir hier vor Ort gegen die Kollaborateure des türkischen Staats vorgehen. Aktionen gegen deutsche Kriegsparteien, wie SPD und Grüne, gegen die deutsche Kriegsindustrie und alle Profiteure des Krieges sind in der aktuellen Phase wichtig. Wenn wir hier vor Ort den deutschen Imperialismus bekämpfen, ist das die beste Art und Weise, unsere Solidarität zu zeigen und den Widerstand der Freiheitskämpfer:innen zu unterstützen.
Jetzt müssen wir alle auf die Straße gehen, die Doppelmoral der deutschen Politik entlarven und internationalen Druck gegen den Angriffskrieg aufbauen.
Kobane und Rojava wurden auch mit Hilfe einer breiten internationalen Solidaritätsbewegung gegen den IS verteidigt. Lasst uns nun die Revolution gegen das türkische Regime und den NATO Imperialismus verteidigen!
Biji berxwedana Rojava!